Niemandsland (15)

… ein Fremdes auf Erden

Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden
Georg Trakl

15.

Er schlief wenig, in dieser Nacht. Die meiste Zeit lag er wach und dachte nach.
Das Erste was ihm gelingen musste war, seine Situation zu überblicken. Welchen Sinn sie hatte, konnte er später klären. Er war auf der Erde gelandet, weil er etwas missachtet hatte. Aber es war gar nicht seine Absicht gewesen etwas falsch zu machen …
Als er wach wurde und mit dem Gefühl einer tiefen Beklemmung, zum Fenster ging, sah er das Schnee fiel.
Es war ein dichtes, filigranes Treiben großer und kleiner Flocken. Er beobachtete, wie der Schneefall das Leben in den Straßen beschwerlich machte, aber auch beruhigte. Sah Passanten, die sich mit ihrem Schirm gegen Schnee und Wind stemmten. Autos die nur noch im Schritttempo über die schmierigen Straßen krochen, Bäume, Beete und Behälter, die unter einem dichten Tuch, aus Weiß langsam verschwanden.
Das war nun seine Welt.
Mühsam machte er sich ein Bild, wie er den Tag verbringen sollte.
Er nahm sein Smartphone, öffnete die Übersichtskarte der Umgebung und sah sich darauf um. Nachdem er, von seinem Standort aus, die Karte in jede Richtung ein Stück verschoben hatte, bemerkte er, dass sich westlich von seinem Hotel, ein Waldstück am Standrand befand, welches er bisher nicht besucht hatte. Seine Ziele waren bislang, vor allem die Menschen und das Treiben der Wächter. Er war nicht auf die Idee gekommen, die Erde selbst anzusehen. Also ein Stück der Welt, welches nichts mit Menschen zu tun hatte.
Der Gedanke belebte ihn.
Kurz darauf verließ er das Hotel und machte sich auf den, in Richtung des Stadtwaldes.
Bis er ihn erreichte, musste er sich eine Weile durch Straßen quälen, die den weißen Schnee rasch in ein schmieriges Grau verwandelte.
Er sah den Menschen, auf seinem Weg, in die Gesichter und sah, wie sie finster und unzufrieden, durch die Welt stapften, die sie sich geschaffen hatten.
Er lief eine gute halbe Stunde, ehe sich die Siedlung ausdünnte, die Häuser flacher wurden und er endlich die ersten Wipfel der Bäume entdeckte.
Als er den Wald betrat war es, als würde er eine schlechte Erfahrung hinter sich lassen. Als würde er ein schlechtes Erlebnis abschließen und endlich wieder in eine bessere und glücklichere Zeit zurückkehren.
Die Luft stank nicht nach Abgasen, sondern duftete nach Erde und feuchten Tannennadeln. Der Boden stemmte sich nicht hart gegen seine Schritte und war mit öligen, grauen Schlieren überzogen, sondern federte leicht und nahm, die schmelzenden Schneeflocken freundlich auf. Seine Augen knallten nicht auf harte, begrenzende Fassaden, sondern verloren sich, in einem wundervollen Gemisch, aus Blättern, Zweigen und mit Moos überzogenen Felsen.
Hier war er in der Welt, wie sie für den Menschen, geschaffen worden war. Hier war er in jenem Abenteuerland, von dem Terrence behauptet hatte, es sei für uns geistige Wesen erschaffen worden, damit wir uns, von einem Dasein in Glück und Fülle, für eine Weile befreien konnten.
Er folgte dem Waldweg wohin er ihn führte und fühlte sich im Frieden mit der Welt. Die Äste über ihm wippten, von der zunehmenden Schneelast, die auf sie herab rieselte.
Seine Gedanken wurden frei und leicht. Es war nicht mehr ein Ich gegenüber der Welt, es waren er und die Welt in einer Einheit.
Ein Geräusch aus dem Unterholz lenkte ihn ab. Er wandte seinen Blick dorthin.
Im ersten Moment erkannte er nichts, aber als er still blieb und konzentrierter hinsah, erkannte er zwischen einigen sich überlagernden Zweigen, den Kopf eines jungen Rehs, dessen dunkle Augen, in seine Richtung blickten, als gäbe es ein Verstehen zwischen ihnen.
Er rührte sich nicht, sondern sah dem Tier in die Augen, wie es ihm in die Augen sah. Es betrachtete ihn, als müsse es darüber entscheiden, ob es ihm eine Rolle als Jäger und sich eine Rolle als Beute zuordnen müsse.
Der Körper des Rehs spannte sich fluchtbereit.
Er wartete.
Das Tier beruhigte sich.
Es entspannte sich, als würde es begreifen, dass er nicht zu diesem Spiel gehörte. Das er ein Gast, ein Beobachter war und sie sich als Geschöpfe begegnen konnten.
Es machte einen Schritt auf ihn zu.
Er blieb regungslos stehen.
Es kam näher.
Er sah es, in seiner ganzen Größe. Ein schönes, muskulöses Tier, voller Anmut und Sanftheit, aber nicht bedrohlich.
Er wartete, bis es unmittelbar vor ihm stand.
Sie betrachteten sich und obwohl keine Sprache zwischen ihnen war, verstanden sie sich.
Das Tier schien seine Verlorenheit und Heimatlosigkeit zu spüren, so wie er die Angst und sein ewiges Gejagtwerden spürte.
Der Moment verging.
Das Tier sprang davon und er blieb berührt und glücklich über diesen Moment zurück.
Er ging weiter, näherte sich dem Waldrand, der den Blick freigab, auf weite Felder die abgeerntet und schwarz von einer dichten Schneedecke begraben wurden.
Die Welt wurde, durch den fallenden Schnee, mehr und mehr zu einer Einheit, wurde weicher und harmonischer.
Er dachte an die Tiere, die sich, in dieser rauen Welt behaupten mussten. An die großen, wie das Reh oder Wildschweine. Aber auch an die Kleinen: die Hasen, Eichhörnchen, Füchse und Marder, die gegen die Kälte und den Hunger bestehen mussten.
Alles Geschöpfe mit genug Bedürfnissen ausgestattet, um sich um ihr Leben zu bemühen und doch nah genug am großen Bewusstsein, um nicht gierig über die Erde herzufallen und sie sich Untertan zu machen.
Diese Schöpfung war, wenn man den Menschen herausnahm, vollkommen.
Sie war nicht nur vollkommen gestaltet, in diesen großen Organismen, sondern vollendet auch in den mikroskopisch Kleinen den Viren und Bakterien, die für Leben und Transformation sorgten. Bakterien besiedelten den menschlichen Darm und die Erde. Sie sorgten dafür, dass sich das Leben entwickeln und wachsen konnte. Sie waren nicht nur Ursache von Krankheiten, die der Mensch mit Medikamenten bekämpfen musste. Das waren schon Auswüchse des Ungleichgewichts. Die Welt war, wie die Wächter sie zu Anfang gestaltet hatten gut. Die Harmonie ging verloren, als denen die hier das Abenteuer suchten, durch Tod und Krankheit der Spaß an ihrem Spielzeug verloren ging und sie anfingen, sich die Welt umzugestalten, um wie Götter auch auf der Erde leben zu können. Aber das war nie der Sinn der Erde. Der Sinn der Erde war Geschöpf in einer Schöpfung zu sein, demütig und achtsam.
Zum ersten Mal, seit er auf der Erde war, fasste er Hoffnung zurecht zu kommen. Zum ersten Mal fühlte er sich nicht verloren, sondern geborgen, wie in einer neuen Heimat.
Er begriff, dass er sich darum kümmern musste, an einem Ort nahe der Natur zu leben. Er musste so schnell, wie möglich aus dem Stundenhotel, in eine andere Umgebung.
Er atmete tief durch.
Es war wie eine Reinigung seiner Seele und seines Körpers.
Mit einem Mal ahnte er, dass er, wenn er einen Platz, der wie ein Zuhause war, finden wollte, musste er nah der Natur suchen und nicht fern von ihr.

© E.S. 2024

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