Niemandsland (13)

13.

Er stand, in den sanften Wellen, einer morgendlichen Brandung und schaute über den Ozean, hinter dessen Horizont, in diesem Moment die Sonne aufging. Es war eine stille, nachdenkliche Stimmung um ihn her. Das Wasser glänzte schwarz von der Nacht die sich langsam von der Oberfläche zurückzog. Der Himmel fächerte die ersten Farben in die Welt, ein dunkles Blau, in welchem glitzernd, wie Diamanten die Sterne funkelten und ein sanftes Orange, welches sich, wie ein leuchtender Halbkreis, langsam in das Blau schob.
Er sah sich um und merkte, dass er nicht allein in diesem Meer stand. Da waren Dutzende, Hunderte andere Menschen. Aber sie waren nicht wirklich Menschen, dass konnte er nur ahnen. Es waren die Silhouetten von Menschen, alles Schatten der Nacht und nicht ins Licht getaucht, um aus blauen, grünen, braunen Augen die Welt zu betrachten.
Er versuchte zu verstehen, wer diese Menschen waren, aber er kam nicht weit, denn im nächsten Moment schwebte eine Wolke auf sie zu. Die Wolke schien ihr eigenes Licht, ihre eigenen Farben zu besitzen, denn sie glühte mal gelb, mal orange, mal ocker und flog viel zu tief, um bereits vom Sonnenlicht erfasst werden zu können.
Die Wolke schwebte über eine der Figuren, die vor ihm stand. Die hob die Hände und im nächsten Augenblick löste sich die Gestalt vor ihm auf, schwebte, wie ein Nebel nach oben und löste sich in der Wolke auf.
Die Wolke schwebte weiter zum nächsten und nahm auch ihn in Empfang. Jetzt begriff er, dass alle die um ihn her, in diesem Meer standen, auf ihre Abholung warteten. Es waren Sterbende, welche die Passage zu den Sternen beschritten.
Rührung erfasste ihn, über die sanfte Hingabe, über die Bereitschaft, der von ihren Körpern losgelösten Seelen. Wenn die Menschen das gewusst hätten, wie viel klüger hätten sie gelebt und die Welt gestaltet. Aber sie wussten nichts und lebten täglich im Horror vor dem was danach kam: der Hölle, dem Fegefeuer, dem Nichts.
Er sah, wie die Wolke auf ihn zu schwebte.
Er freute sich.
Er freute sich auf die Auflösung.
Auf seine Chance endlich nach Hause zu kommen und vom irdischen wieder befreit zu sein, aber gerade, als die Wolke fast über ihm war, packte ihn die Silhouette neben ihm am Arm.
Er drehte sich zu ihr.
Wollte sie abschütteln.
Wollte ihr sagen, dass sie ihn in Ruhe lassen sollte.
Aber sie ließ ihn nicht in Ruhe.
Sie zog weiter an seinem Arm und jetzt verstand er was sie sagte: »He! Jim. Es ist Zeit aufzustehen.«
Er öffnete die Augen und blickte in die von Salome, die über ihn gelehnt stand.
»Willst du Rührei oder gekochte Eier?«
»Ich, ich …«, stammelte er.
»Du musst wohl erst mal richtig wach werden.« Kommentierte sie kühl. »Wir warten in der Küche auf dich.«
Damit verschwand sie und er bekam Gelegenheit herauszufinden, wo er war.
Es handelte sich um das Gästezimmer, in Arkis Haus. Er lag in einem bequemen Gästebett.
Er stand auf und fand seine Kleidung sauber über einen Stuhl gehängt.
Er erinnerte sich undeutlich, dass Arkis ihn in das Zimmer gebracht und ihm das Bett vorbereitet hatte.
Erleichtert stellte er fest, dass ihm der gestrige Abend, trotz großer Alkoholmengen besser im Gedächtnis geblieben war, als die Nacht mit Terrence, die immer noch im Dunkel lag. Um zu testen, ob er nicht zu euphorisch war, gab er sich Mühe, sich mehr Situationen aufzurufen.
Er erinnerte mich, dass sich eine Diskussion entsponnen hatte, ohne zu wissen wer sie anstieß.
Okay, dachte er, spätestens beim Frühstück werde ich wissen, wie ich mich geschlagen habe.
Als er die Küche betrat, saßen Arkis und Salome beim Frühstückstisch. Linda war nicht zu sehen. Arkis begrüßte ihn fröhlich.
Die Diskussion vom Abend zuvor schien beendet.
Er wunderte sich, wie ernsthaft und bemüht, Menschen, die Rätsel des Lebens zu lösen versuchten, um Stunden später weiterzuleben, als gäbe es, all diese Sorgen und Fragen nicht mehr. Als wäre der Tod eine blasse Theorie und das Unglück ein Fleck, den man mit etwas Wasser und Seife wegwischen konnte.
»Na? Gut geschlafen?« Wollte Arkis wissen.
»Ja.« Gab er zu. »Etwas wild geträumt, aber ich fühle mich gut ausgeruht.«
»Was willst du frühstücken? Es gibt Eier, Käse, Wurst. Wir haben Saft, Tee und Kaffee. Du kannst dich setzen und wir zaubern dir alles was du brauchst.«
»Ich zaubere.« Bemerkte Salome spitz.
»Natürlich, wie es sich für eine gute Hausfrau gehört.«
Es war offensichtlich, dass er sie ärgerte und an ein Frauenbild erinnerte, dass seit fünfzig Jahren tot war.
»Mir würde eigentlich ein Tee genügen.« Antwortete Jim vermittelnd, obwohl sein Magen eine ganz andere Meinung hatte und Eier, Käse, Wurst, Saft, Tee und Kaffee in großen Mengen begrüßt hätte.
Salome reichte ihm eine Thermoskanne.
»Der perfekte Gast, Papa.«
Jim öffnete den Drehverschluss und füllte die Tasse die vor ihm stand.
»Hättet ihr vielleicht eine Idee, wo ich einen Job finden kann?«
Er wandte sich an Salome.
»Ich habe es Arkis gestern erklärt. Ich bin neu in der Stadt und muss zusehen, wie ich Fuß fasse.«
Ihrem Blick sah er an, dass dies ihr Vertrauen in ihn, nicht steigerte.
Arkis wirkte erfreut, über meine Frage.
»Was kannst du denn?«
Weil es der Wahrheit am ehesten entsprach antwortete er: »Nichts besonderes. Aber ich bin ein ziemlich fleißiger Autodidakt, mit guter Auffassungsgabe. Ich brauche nur eine Chance.«
»Ohne Master oder zumindest Bachelor-Abschlüsse sind Chancen Mangelware. Das ist dir klar.« Ließ Salome ihn wissen.
Arkis war offener.
»Ich könnte mir das vorstellen, dass ich bei einem Freund etwas Arbeit für dich finde.«
»Das wäre mir wirklich eine Hilfe.«
»Dann lass mich ihn mal anrufen.«

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